28. März 2023 / Use Case / Sabine Schweigert

Co-Design, die Ressourcenbrille und ein Schulungskonzept

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ältere Frau hält und streichelt ein "Demenzding", das sog. "MitGefühlt"

Bildquelle: Demenzdinge – Universität Folkwang

Social Design setzt sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinander und gestaltet sie auf partizipative Weise, integriert also Menschen aus der Gesellschaft in den Gestaltungsprozess“, so erklärt Carolin Schreiber, Professorin für Social Design, im Video (siehe unten) zur Abschlussveranstaltung von DemenzDinge. Das vierjährige Forschungs- und Modellprojekt der Folkwang Universität der Künste, Fachbereich Gestaltung | Industrial Design, in Essen fand seinen offiziellen Abschluss im vergangenen Herbst. Seine Wirkung darf es hingegen langfristig entfalten, denn was dabei entstanden ist, sind nicht nur 13 individuelle Alltagshelfer für die Personen mit Demenz und die betroffenen Familien des Projekts, sondern auch und vor allem ein Schulungskonzept für pflegende Angehörige, das sich im Nachhinein auch für ambulant oder stationär pflegendes Fachpersonal als sinnvoll erwiesen hat.

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Partizipativ und interdisziplinär, so gestalteten sich die Teams, die den Lebensalltag von Familien, die eine Person mit Demenz betreuen, durch die Entwicklung von individuell gestalteten „DemenzDingen“ erleichtern sollten. In einem Prozess des Co-Designs, der Co-Creation, arbeiteten jeweils eine Gestalterin, eine Demenzexpertin und die Familie zusammen. Ausgewertet wurden die dabei entstandenen Protokolle in Zusammenarbeit mit zwei Soziologen nach qualitativen, inhaltsanalytischen Methoden.

Der Kernmodus unseres Verfahrens waren Co-Design-Prozesse, das heißt wir haben 15 Familien akquiriert und über einen Zeitraum von zwei Jahren bei ihnen zuhause gearbeitet. Meistens war es ein Treffen pro Woche, ungefähr zwei Stunden, je nach Tagesform. Dabei haben wir geschaut, welche Reibungen und Fragestellungen es jeweils gibt. Letzten Endes wurde dann ganz individuell für diese Menschen mit Demenz eine Alltagshilfe entwickelt“, erklärt Diana Cürlis. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts DemenzDinge, arbeitet aktuell mit Prof. Carolin Schreiber an einem weiteren Projekt an der Münster School of Design und war kürzlich Referentin der ersten Ausgabe des #SDNue Social Design Forum Nürnberg mit dem Titel „Design anders denken“.

In ihrem Impulsvortrag (das Video steht schon bald hier zur Verfügung) erläuterte sie dabei eindrückliche Beispiele dessen, was in den Prozessen des Co-Designs unter anderem entstanden ist. Da gibt es das Mosaik, das frühere Fingerfertigkeiten der Tiffany-Kunst auf elementare Gesten herunterbricht und noch einmal die Leidenschaft für farbliche Kompositionen wiedererweckt. Und da ist das MitGefühlt Kissen, das dank integrierter Arduinos Bewegungen und Töne erzeugen und für kurze Zeit noch einmal Anzeichen von Fürsorge auftauchen lässt. Liest man parallel weiter, so entdeckt man ein zweites Kissen, das Fell, Pfoten und Gewicht einer Katze imitiert und beim „Auf-den-Schoß-nehmen“ für innere Ruhe sorgt. Ein optimiertes Halma-Spiel mit großen, magnetisierten Spielsteinen beugt Frustration durch unkoordinierte Gesten vor. Und weitere konkrete, dingliche Hilfen strukturieren den Tagesablauf in vielerlei Hinsicht.

So unterschiedlich die 13 DemenzDinge äußerlich und funktional auch scheinen: immer geht es dabei auch um das Kernthema Sicherheit. Was kann der Mensch mit Demenz sich noch zutrauen, wie kann er autonom bleiben, wie kann ein geregelter Alltag für Orientierung sorgen? Wie kann durch dieses kleine Bisschen mehr an Sicherheit und Selbstständigkeit dem oder der pflegenden Angehörigen Zeit für Self-Care geboten werden? Und wie lässt sich nachhaltig eine Hilfestellung für all diejenigen betroffenen Familien bieten, die nicht am Projekt DemenzDinge teilnehmen konnten? Wie also gelingt Design-Empowerment, so die Frage, zu deren Beantwortung das DemenzDinge-Team ein Schulungskonzept entworfen hat.

Das Schulungskonzept besteht aus drei Entitäten – dem Handbuch „Alltag mit Demenz neu gestalten“, einer Reihe aus 8 Video-Tutorials zu gestalterischen Methoden und einem Chatbot als Hilfe zur Selbsthilfe – und bietet allen, die einen Menschen mit Demenz begleiten und pflegen, Kommunikationsstrategien und Methoden der Gestaltung, die helfen können, den Alltag zu meistern. Dabei geht es immer auch darum, die Person mit Demenz wertschätzend einzubinden, ihre verbleibenden Fähigkeiten und Wesenszüge zu fördern und zu nutzen und gleichermaßen den Bedürfnissen der pflegenden und der zu pflegenden Person gerecht zu werden.

Das Schulungskonzept sensibilisiert die Pflegenden, die Herausforderungen des Alltags zu benennen und die Bedürfnisse der Person mit Demenz zu erkennen. Zudem trainiert es den Blick durch die Ressourcenbrille, von Diana Cürlis als „Gelingensbedingung“ definiert, um die Person mit Demenz konstruktiv und partizipativ in die Gestaltung der DemenzDinge einzubinden. Wichtig zu bedenken ist dabei: viele der Betroffenen haben kaum oder keine aktive Sprache mehr. Beobachtung ist also der Schlüssel, um ihre Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Fähigkeiten zu lesen und zu deuten und parallel Potenziale im Alltag auszumachen, die ausgeschöpft werden können, um das Leben der Betroffenen angemessener zu gestalten. Auch für all dies bietet das Schulungsprogramm Anleitungen.

Geht es dann darum, DemenzDinge co-kreativ zu gestalten, so können die Betreuenden auf Tools aus den gestaltenden Disziplinen zurückgreifen, die im Schulungsprogramm anschaulich und leicht verständlich erklärt und aufbereitet werden. Wie entwickelt man Lösungen? Was sind und wie entstehen Prototypen? Was bedeuten und welchen Stellenwert haben Intervention, Partizipation, Implementierung und Feedback? Life-Hacks aus dem Alltag eines Designers, sozusagen, veranschaulicht anhand von Beispielen aus dem Modellprojekt DemenzDinge.

Abschließend bereitet insbesondere das Buch die Betreuenden und Pflegenden auf zu erwartende Ergebnisse bei der Gestaltung von DemenzDingen vor. So liest man auf Seite 197 f. des Handbuchs: „Zu dem Zeitpunkt, ab dem ihr DemenzDing funktioniert, implementiert ist und von der Person mit Demenz angenommen wird, gilt der Gestaltungsprozess als erfolg­reich abgeschlossen. (…) Dem degenerativen Verlauf der Krankheit geschuldet wird jedoch auch ein erfolgrei­ches DemenzDing nicht unendlich lang funktionieren können.

Gewohnte Abläufe und die Benutzung von Gegenständen, die vorher ohne Probleme möglich waren, klappen einige Zeit später nicht mehr – das gemeinsam entwickelte DemenzDing kann dann nicht mehr genutzt werden, um die Symptome der Krank­heit zu lindern. (…) Manche DemenzDinge haben das Potenzial, so verändert zu werden, dass es sich auf die neue Situation einstellen kann, andere nicht. (…)“.

Und das ist nur die abschließende Herausforderung, der sich die Pflegenden gegenübersehen. In den Schulungsmaterialien, insbesondere im Chatbot, geht es während des gesamten Gestaltungsprozesses immer wieder auch um das Thema Self-Care der betreuenden Personen. Um angemessen Unterstützung und Pflege leisten zu können, muss für ihr Wohlbefinden gesorgt werden. Und so fließen ihre Bedürfnisse mit in die Konzeption der DemenzDinge ein, werden die Pflegenden selbst – neben den Personen mit Demenz –  zu Co-DesignerInnen.

Doch wie sieht es mit den Design-Studierenden und Dozenten aus, die ohne fachliche Vorkenntnisse die Arbeit mit Personen mit Demenz aufgenommen haben? Diana Cürlis unterstreicht in Gesprächen immer wieder die Wichtigkeit des interdisziplinären Teams und des Domänenwissens der Demenzexperten. Eine ihrer Aufgaben war es, die jungen Design-Studierende und Dozentinnen auf die komplexe Arbeit mit Personen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten vorzubereiten, sie beim Vertrauensaufbau mit den Familien zu unterstützen und Situationen zu interpretieren. Und so wird am Beispiel des Modellprojekts DemenzDinge einmal mehr klar: wer gesellschaftliche Herausforderungen professionell, kreativ und empathisch gestalten soll, der muss auf die komplexen Fragestellungen und auf die Arbeit im partizipativen Umfeld mit unterschiedlichsten Personen vorbereitet werden. Die Designlehre selbst bedarf ständiger Gestaltung.