Bei digitalen Identitäten denken wir häufig an einen regulatorischen Kontext: die elektronische Unterschrift, der Impfpass, der digitale Führerschein, der digitale Personalausweis. Doch digitale Identität beginnt viel früher und hat sehr unterschiedliche Facetten.
Sobald wir uns einen Account anlegen, haben wir eine digitale Identität – sei es nun mit Klarnamen oder unter Pseudonym. Werden diese digitalen Identitäten zu Avataren, dann entstehen völlig neue Möglichkeiten der Customer Experience.
Zurück zu den Anfängen des Internets
Anonymität für alles und jeden, lautete das Versprechen des Internets in seinen Anfängen. Denn: „Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist.“
Seitdem hat sich viel verändert. Zum einen können Algorithmen sehr früh Rückschlüsse auf die tatsächliche Identität finden, zum anderen wird Anonymität genutzt für Diskreditierung, Hass und Schlimmeres. Trotzdem ist die grundsätzliche Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen oder anders sein zu können, weiterhin gegeben.
„Was wäre wenn …?“ Die Nähe zum Storytelling und zur Ausgestaltung unterschiedlicher „Experiences“ liegt also auf der Hand. Inzwischen sind die technischen Möglichkeiten so weit, dass diese Erlebnisse ein tatsächliches Erleben sein können. Wer in Pandemie-Zeiten einmal statt einer Videokonferenz eine virtuelle Konferenzwelt betreten hat, der weiß, welchen Unterschied es macht, wenn man sich als Avatare gemeinsam an einen Tisch gesetzt hat. Die Kommunikation über den Video-Call bleibt dieselbe, aber es fühlt sich anders an.
Im Gaming sind digitale Identitäten schon etabliert
Diese virtuellen Welten sind durch die Online-Spiele bereits ein erheblicher Wirtschaftsfaktor. Die entsprechenden Unternehmen werden hoch gehandelt. Aus CX-Sicht sind aber noch ganz andere Aspekte interessant, die sich überraschenderweise sogar schon in den Begriffen widerspiegeln: Im Spiel FIFA gibt es den „Journey Modus“. Wie bei einer Customer Journey Map schlüpfe ich also in die Rolle einer Person. Die jeweiligen Perspektiven heißen in den Spielen und im Jargon der Spieler POV (Point of View). Also das, was wir auch aus dem Design Thinking Prozess kennen.
Ich kann im Virtuellen zu demjenigen werden, der ich immer schon einmal sein wollte, kann meine Kleidung und mein Aussehen ändern. Ich treffe andere, interagiere mit ihnen, handele mit Aktien, kaufe Immobilien, habe einen Job und vieles mehr. So dass ich am Ende ein eigenes virtuelles Leben führen könnte, womit wir bei der Idee eines „Metaverse“ wären, eines fiktiven Universums (https://de.wikipedia.org/wiki/Metaversum).
Es muss nicht gleich ein Metaverse sein
Diese Ideen eines Metaverse werden aktuell viel diskutiert und geben sicherlich die große Richtung vor. Auch wenn sie erst in einigen Jahren Relevanz haben werden. Doch für eine neue Gestaltung der Customer Experience reichen die heutigen Möglichkeiten längst schon aus und bieten erhebliches Potenzial, sich (noch) vom Wettbewerb zu differenzieren.
Natürlich drängt sich hier die Modeindustrie auf – im Grunde virtuelle Anziehpuppen. „Wenn wir ein Kleidungsstück anprobieren, bewerten wir nicht nur, ob es unserem Körper passt. (…) Wir beurteilen, ob die Passform zeigt, wie wir uns nach außen hin präsentieren wollen. Ein bestimmtes Narrativ [das von einer Marke erzeugt wird] gibt Verbrauchenden also die Möglichkeit, sich als Teil einer bestimmten Gruppe zu sehen“, sagte die Forscherin Chinouk Filique de Miranda in einem Vortrag auf der Konferenz Responsible Fashion Series („Digitale Dimensionen: Die Ästhetisierung der Online-Identität“). Und die modeaffine Zielgruppe kennt diese Möglichkeiten des virtuellen Einkleidens bereits aus der Spiele-Welt.
Und wir können die Erfahrungen, die bei Online Games bereits erlebt werden, auch auf andere Branchen übertragen. Immer dann, wenn ich Sicherheit für eine Entscheidung gewinnen will (und das sind zumeist Entscheidungen von großem materiellen oder immateriellen Wert), dann kann es mir künftig helfen, ein „Was wäre wenn“-Szenario vorab virtuell erleben zu können. Der Immobilienkauf, die Wahl eines neuen Jobs, die Fahrt mit dem neuen Auto, generell die Benutzung eines Produkts, ja selbst die „Journey“ meiner Altersvorsorge ließen sich mit meiner digitalen Identität kennenlernen.
Ob wir diese Erlebnisse, die unserem digitalen Alter Ego – also unserer digitalen Identität – ermöglicht werden, dann Digital Experience nennen oder weiterhin Customer Experience, ist letztendlich egal. Entscheidend ist, dass wir mit Hilfe des Service Designs diese Erlebnisse in der digitalen Welt gestalten.