Das Medium gehört zu den Begriffen, für die es keine eindeutige Definition gibt. Medientheorie, Medienphilosophie und Medienwissenschaften, sie alle, und auch einzelne Schriftsteller und Philosophen, haben die Festlegung der Begrifflichkeit versucht, ohne sie jemals zu vereinheitlichen. Auch Paul Virilio, der französische Philosoph und Kulturkritiker, Architekt und Stadtplaner, hatte eine Definition entwickelt, die zu kennen grundlegend ist, um sein eigentliches großes Forschungsfeld – die von ihm geprägte Dromologie – zu verstehen. Mit der Dromologie betrachtete der 1932 geborene und 2018 verstorbene Virilio die gesellschaftliche Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Geschwindigkeit und malte dabei ein alles andere als rosiges Bild der Zukunft. Was können wir aus seiner mitunter dystopischen Sicht der Dinge mitnehmen, um technologische Entwicklungen konstruktiv aber kritisch zu hinterfragen und achtsam und sinnvoll zu nutzen?
Medium und Geschwindigkeit
In seinem Essay „Fahren, fahren, fahren“ von 1978 erläutert Virilio sein Verständnis von Medium am eindrücklichsten und verweist dabei auf die Relevanz von Geschwindigkeit. So definiert er das Auto im geparkten Zustand als überdachtes Sofa, das seine Besonderheit als Transportmittel eben erst durch die Fortbewegung erlangt. Es wird zum Medium, das sich selbst, Menschen und Gegenstände von A nach B schafft. Dabei konstatiert er, dass die Realität sich für die fahrende Person verändert, da die Wahrnehmungsmöglichkeiten durch die Geschwindigkeit des Vehikels beeinflusst werden. Eine rein geographische, statische Wahrnehmung wird in eine zeitliche, kinetische Wahrnehmung übergeführt.
Virilio bricht diese Erkenntnis auf eine noch grundlegendere Ebene herunter: der Mensch selbst ist ein Medium der Bewegung, ein „metabolisches Fahrzeug“, das sich mit seiner Geschwindigkeit – der seiner Bewegungen, aber auch der der eigenen Biographie – fortbewegt und sogar identifiziert.
In einem weiteren Essay mit dem Titel „Geschwindigkeit und Politik“ verweist Virilio zudem auf die These, dass nicht materieller Reichtum sondern Geschwindigkeit alles politische Leben und Begehren maßgeblich beeinflusst. Nicht welches Gut und welches Wissen man besitze verleihe dem Menschen Macht, sondern vielmehr die Geschwindigkeit, mit der er selbige übermitteln und sich so zu Nutzen machen kann.
Um ein Beispiel zu erwähnen, bei dem die Wichtigkeit der Geschwindigkeit des Mediums im Zusammenhang mit einer Art von Macht in den Vordergrund rückt: man denke an das Börsentreiben der jüngsten Jahre, bei dem dank der Leistungsfähigkeit von Rechnern und der Geschwindigkeit bei der Daten- und Befehlsübertragung Bruchteile von Sekunden über den Erfolg oder Misserfolg des Aktienhandels entscheiden. Simultanität, eine Übermittlung in Echtzeit, ist das Stichwort.
Simultanität, Ubiquität, rasender Stillstand
Tatsächlich hat das 20. Jahrhundert technologische Neuerungen hervorgebracht, die zeitliche Simultanität bei räumlicher Distanz ermöglichen. Das Radio, Live-Übertragungen im Fernsehen, Internet und sein vielfältiges Potential sind nur einige Beispiele dafür.
Über die Auswirkung der Simultanität elektronischer Kommunikationsübertragung sinnierte Paul Virilio in seinem Essay „Rasender Stillstand“ von 1990, einer Zeit, in der das World Wide Web gerade für die kommerzielle Nutzung zugänglich wird. Der Essay und Auszüge aus anderer seiner Schriften nehmen in vielen Aspekten vorweg, was Internet im Laufe der letzten drei Jahrzehnte geworden ist: durch eine Beschleunigung der elektronischen Kommunikation verkürzen sich räumliche Distanzen und Hürden. Der Raum wird grenzenlos und verdichtet zugleich. Wir können gleichzeitig hier und virtuell – per Zoom, VR-Brille oder Livestream – überall sein, Ubiquität erreichen. Und auch die Menge an Information wird verdichtet – wir googeln, nutzen Wikipedia und Content ist sowieso King – was wiederum zur Überinformation führt.
Bis hierhin dürfte sich für viele von uns die Prophezeiung Virilios mit so manch eigener Erfahrung decken. Doch dann? Virilio überlegt weiter: Virtuelle Realitäten, die durch elektronische Kommunikation vermittelt werden, verdrängen mehr und mehr den realen Raum, bis dass ein Stillstand und ein nahezu komatöser Zustand sich einstellen und das Ende der Zivilisation einläuten. Virilios Zukunftsvisionen werden zur Dystopie.
Das egozentrische Weltbild
Gehen wir einen Schritt zurück in der Analyse der Forschungen Virilios, um die dystopischen Schlussfolgerungen Virilios zu verstehen.
Durch die Beschleunigung der Kommunikation mittels elektronischer Übertragung verliert der reale Raum an Wichtigkeit. Das geozentrische Weltbild – also der reale, geographische Raum als Bezugspunkt – überholt sich und wird durch das egozentrische Weltbild ersetzt. Was zählt ist die Wahrnehmung des Einzelnen, nicht der Raum, in dem der Einzelne sich befindet. Dabei relativiert sich auch verstärkt die Wahrnehmung von Zeit.
Auch diese These lässt sich anhand des eigenen Erfahrungsschatzes nachvollziehen. Während Menschen traditionell in der räumlichen Blase ihrer Nachbarschaft lebten und agierten, hat sich der geographische Aktionsradius mit den Transportmitteln vergrößert. Nun erleben wir eine weitere Überspitzung des Konzepts der Blase: wir selbst – und dementsprechend Algorithmen – entscheiden, was wir von Suchmaschinen und in sozialen Medien angezeigt bekommen. Unsere Wahrnehmung personalisiert sich immer mehr anhand unserer eigenen Maßstäbe. Und dabei spielt der geographische Ort unseres Aufenthalts eine immer geringere Rolle: zum Sozialisieren auch auf Distanz gibt es Social Media und sitzt die Lieblingsboutique am anderen Ende der Welt, so hilft das Onlineshopping weiter.
Auch diese Entwicklungen prophezeite Virilio bereits in seinem Essay von 1990 und schloss daraus, dass die Menschheit auf eine Dromo-Politik zusteuert, in der sich eine soziale Entregulierung einstellt und das Konzept der Nation überholt sein wird. Für Virilio führt dies zu einer Blindheit hinsichtlich des Wesentlichen und zur Zerstörung der menschlichen Lebensweise.
Die Abschaffung des Menschen
Doch wie kommt Virilio zu einer derart dystopischen Einschätzung?
Der Franzose definiert in seinem Essay „Revolutionen der Geschwindigkeit“ aus dem Jahr 1993 drei Phasen der Geschwindigkeitsrevolution. Da ist zum einen, wie oben angedeutet, die Revolution des Transportwesens im 19. Jahrhundert. Ihr folgt, ebenfalls beschrieben, die Revolution der Übertragungsmedien in Lichtgeschwindigkeit, die Simultanität bei räumlicher Distanz ermöglicht. Als dritte Revolution sieht Virilio die Transplantationstechnik. Seine These: da sich die Geschwindigkeit der Medien nicht weiter beschleunigen lässt, kann nur noch die Wahrnehmung des Menschen beeinflusst werden. Dies wird, so seine Annahme, über Transplantationstechniken erfolgen. Die Information wird durch „Mikromaschinen“ direkt in den Menschen eingespeist und degradiert den Menschen selbst zur Hülle. Seine logische Schlussfolgerung, um diesem Ende entgegenzuwirken: eine freiwillige technologische Regression. Und: um diese motivieren und erwirken zu können bedarf es Virilios Ansicht nach zu jeder technologischen Neuerung auch des dazugehörigen Unfallszenarios als Mahnmal. Er nannte das, den „negativen Horizont“ im Blick behalten, und regte die Errichtung eines Unfallmuseums an.
Kein Unfallmuseum, jede Menge Diskurs und eine Anmerkung in eigener Sache
Befasst man sich mit Virilio und seinen dystopischen Zukunftsvisionen so darf und muss man sicher im Hinterkopf behalten, dass es sich hier weniger um einen methodisch analytischen Wissenschaftler als vielmehr um einen abstrakten Denker handelt. Er selbst stufte sein Werk daher als Science Fiction, als Theoriefiktion ein. Dementsprechend trifft sein Werk unter Wissenschaftlern auch heute noch auf Kritik.
Dennoch: so manche seiner Thesen zu den ersten beiden Revolutionen dürften den ein oder anderen zum Nachdenken bringen, auch ohne Unfallmuseum. Der Grat wird dann schmaler, wenn es um seine Überlegungen zu den Transplantationstechniken geht, von denen sich womöglich auch Verschwörungstheoretiker angesprochen fühlen könnten.
Sich mit Virilio und allgemein mit Philosophen, Medien- und anderen Wissenschaftlern zu befassen ist allerdings notwendiger Teil einer Kommunikationskultur, die den Dialog, den Diskurs und die Diskussion sucht und achtsam führt und pflegt. „Negative Horizonte“ können dabei genauso zum Reibungspunkt werden, wie positiver Input zum gedanklichen Anstoß wird. In jedem Fall bietet ein achtsamer Umgang mit allen Sichtweisen die Möglichkeit, reflektiert und verantwortungsbewusst mit technologischen Neuerungen, aber auch mit allen anderen Herausforderungen unserer Zeit umzugehen.