Die Geschichte des Sitzens zu analysieren würde den Rahmen unserer Rubrik „Design und Mensch“ sprengen.
Aber so viel sei gesagt: betrachtet man bildliche Überlieferungen vergangener Jahrtausende, so wird klar, dass die ursprüngliche Position eine Art Kauern war oder ein Hocken auf Steinen, Baumstämmen und Ähnlichem. Der Stuhl als solcher wurde zunächst in Form einer Art Thron erschaffen und war den Herrschaften vorbehalten.
Nach und nach haben sich dann andere Formen von Stühlen entwickelt. Heutzutage gilt die Gestaltung von Stühlen und Sitzmöbeln allgemein als eine der Königsdisziplinen im Produktdesign, da dieses Objekt, vielleicht wie kein anderes, Anforderungen an die Ergonomie stellt.
Der Zusammenhang zwischen den Proportionen
Was geblieben ist, ist der Zusammenhang zwischen den Proportionen des Sitzmöbels und dem Kontext, innerhalb dessen es genutzt wird. Niedrige Sitzhöhen und tiefe Sitzflächen vermitteln und fördern Geselligkeit und bequemer Entspannung. Den Körperproportionen angepasste Dimensionen ermöglichen ein aufrechtes Sitzen, das einen Fokus auf andere Tätigkeiten wie Essen und Arbeiten ermöglicht. Dabei ist die Typologie und Ausführung des Stuhls eine Möglichkeit, um Hierarchien klar herauszuarbeiten. Wer erinnert sich nicht an den „Sofa-Gate“: bei einem Treffen in Ankara durfte nur EU-Ratspräsident Charles Michel neben dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan Platz nehmen, während EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen abseits auf der Couch saß. Sitzen ist eben nicht gleich sitzen, Sitzplatz nicht gleich Sitzplatz und Sitzmöbel nicht gleich Sitzmöbel.
Ein Sitzobjekt, das sich dem Körper anpasst
Umso spannender wird die Frage, was passiert, wenn sämtliche strukturellen Aspekte von Sitzmöbeln überwunden, ja revolutioniert werden? Was passiert mit unserer Haltung, was mit unserer Außenwirkung, unserer Konzentration und Interaktion? Im Jahr 1968 wagt der italienische Hersteller Zanotta das Experiment und präsentiert Sacco, aus der Feder von Piero Gatti, Cesare Paolini e Franco Teodoro.
Das damals junge Design-Trio unterbreitet kurz vorher dem Unternehmer Aurelio Zanotta, einem der Hauptakteure im antikonformistischen Design, einen transparenten Vinylsack, der zu zwei Dritteln mit Polystyrolkügelchen gefüllt ist. Ihre Idee basiert auf traditionellen bäuerlichen Bräuchen, wonach ein mit Kastanienblättern gefüllter Sack als transportable Sitz- und Ruhefläche diente. So entschliessen sich die drei, ein Sitzobjekt zu gestalten, das sich dem Körper anpasst und nicht umgekehrt. Was dann passiert ist vermutlich auch für die Schöpfer und den Hersteller Zanotta eine unerwartete Erfolgsgeschichte: im Jahr 1970 wird Sacco mit dem begehrten Compasso d’Oro ADI ausgezeichnet, wenig später gelingt ihm der Einzug ins MoMa in New York, um anschließend in die renommiertesten Museen weltweit aufgenommen zu werden.
„Partizipatives“ Sitzen
Das Sitzen auf Sacco kann man wohl als „partizipativ“ bezeichnen. Der Sack wird aufgeschüttelt, die Stelle ausgesucht, auf der man sich darauf niederlassen will und dann mit ein bisschen Ruckeln des Körpers, ein paar Knuffen mit dem Ellbogen und ein wenig Zupfen hier und da eine ideal entspannte Position gefunden. Es geht also um ein Interagieren zwischen Mensch und Objekt, auf dass beide zueinander finden und der Zweck des Möbels erfüllt wird. Dabei appelliert Sacco auch an unseren Entdeckergeist und Spieltrieb: könnte ich vielleicht seitlich liegen, wie die alten Römer? Oder mich entspannt zurücklehnen? Wie finde ich zu einem aufrechteren Sitzen und kann ich mehrere Säcke so kombinieren, dass noch mehr Möglichkeiten entstehen? Kein Wunder, dass Sacco so viele Nachahmer gefunden hat und auch heute noch in ständiger Überarbeitung ist, was Farben, Materialien und Muster angeht. Ob Sacco sich für formelle Gesprächsrunden eignet wollen Sie vielleicht ja selbst einmal experimentieren. Wir freuen uns auf Ihren Erfahrungsbericht.